Wofür es sich zu leben lohnt
(Grundlage für „Macht es für euch“)
28. Jänner 2011,
Es sind die kleinen, oft fast unscheinbaren Dinge, für die es sich zu
leben lohnt ....
Wirklich vernünftig sein heißt eben nicht ganz vernünftig sein zu wollen
...
Eine schöne Aussicht, ein Glas Wein, gute Freunde, feierliche Liebe,
lustvolle Rauschzustände oder einfach eine Menge Geld? Was bereitet uns
Freude? Ein klärender Essay. Von Robert Pfaller
Eigentlich ist es gar nicht schwer, zu sagen, wofür es sich zu leben
lohnt. Es sind kleine, oft fast unscheinbare Dinge: mit Freunden ein
Gespräch beim Kaffee führen; eine Aussicht genießen; eine Runde
schwimmen; in angenehmer Gesellschaft ein Glas Wein trinken; Momente der
Zärtlichkeit oder der Liebe etc. Solche Momente geben uns Gelegenheit,
zu bemerken, dass sich das Leben lohnt; möglicherweise auch in vielen
seiner übrigen Momente. Aber nur wenn wir das bemerken können, lohnt
sich das Leben. Darum sind die genannten Gelegenheiten entscheidend.
Wofür
es sich zu leben lohnt, ist etwas ganz anderes als die Frage, wozu
es sich zu leben lohnt - also für welche großen Ideen, welche
bedeutenden Aufgaben man leben könnte, indem man ihnen das Leben
unterordnet.
Der Philosoph Michel de Montaigne hat bemerkt, dass wir nie vergessen
dürfen, dass es unsere vornehmste Aufgabe ist, zu leben. Das heißt,
dass man imstande sein muss, im Leben auch dann etwas zu Behauptendes zu
erblicken, wenn man es alleine genommen betrachtet, und es nicht hinter
all den Projekten versteckt, denen man es, um sich vor dieser
Betrachtung zu drücken, gerne verdächtig schnell unterordnet.
Nicht in unseren Abenteuern kommen wir also unserer vornehmsten Aufgabe,
dem Leben, nach, sondern in jenen Momenten, in denen, wie es einmal
hieß, "das Abenteuer Pause macht". Wer die Kunst, solche Momente
herzustellen, vergisst, verfällt am Ende eines Abenteuers leicht in die
typischen Depressionen von Olympiasiegern nach dem Triumph oder von
Doktoranden nach Abschluss ihrer Dissertation.
Man möchte nun meinen, dass Menschen kein dringenderes Bedürfnis haben
als das nach jenen Momenten, in denen sich erleben lässt, dass sich das
Leben lohnt. Aber die aktuellen Erfahrungen zeigen, dass dies nicht
immer der Fall ist. Offenbar kann den Leuten etwas abhanden kommen, das
dazu erforderlich ist. Die Individuen verfügen nicht immer über die
Gesamtheit ihrer Lustbedingungen.
Dieses Zwiespältige
Es gibt dabei eine entscheidende Schwierigkeit. Alles, wofür es sich zu
leben lohnt, ist nämlich rund um eine zwiespältige Eigenschaft gebaut:
Es ist teuer wie Partykleidung, ungesund wie Alkohol, unanständig oder
unappetitlich wie Sex, schmerzhaft wie eine Überwindung, unvernünftig
wie Fantasie, Spiel, Müßiggang oder Verausgabung etc.
In den meisten Momenten unseres Alltags verabscheuen wir dieses
Zwiespältige: Am Morgen wollen wir vielleicht nicht einmal das Wort
"Whisky" hören; am Abend in einer dunklen Bar mit coolem Jazz aber kann
die Sache zu einem triumphalen Genuss werden. Denn gerade diese
verwandelten Zwiespältigkeiten bilden für uns den Inbegriff dessen,
wofür es sich überhaupt zu leben lohnt. Ohne die Verrücktheiten der
Liebe, die uns gerade die sperrigen Eigenschaften geliebter Personen
anbeten lässt; ohne die Schamlosigkeiten der Sexualität; ohne die
Unvernunft unserer Ausgelassenheiten, Großzügigkeiten, Verschwendungen,
unserer Geschenke, Feierlichkeiten, Heiterkeiten und Rauschzustände wäre
unser Leben eine abgeschmackte Abfolge von Bedürfnissen und -
bestenfalls - ihrer stumpfen Befriedigung; eine vorhersehbare, geistlose
Angelegenheit ohne jegliche Höhepunkte, die insofern mehr Ähnlichkeit
mit Tod hätte als mit allem, was den Namen des Lebens verdient.
Man kann wohl sagen, dass diese auf einem unguten Element basierende
Lust diejenige ist, die als kulturelle Lust bezeichnet werden darf,
wohingegen alle einfache, ohne jedes Negativelement gebildete Lust (etwa
dass wir froh sind, wenn wir Licht, Wärme, Ruhe oder Windstille haben)
unserer Tiernatur geschuldet ist.
Damit wir das, was wir üblicherweise verabscheuen, in Ausnahmemomenten
als lustvoll empfinden können, ist eine entscheidende gesellschaftliche
Bedingung notwendig: Es muss eine soziale Situation geben; einen Moment
der Eleganz, der Feierlichkeit, der uns verpflichtet, uns glamouröser zu
benehmen als sonst. "Jetzt wird gefeiert, und du machst mit" - das ist
der entscheidende gesellschaftliche Imperativ, ohne den alles, was uns
Freude machen kann, nur schrecklich wäre. Und die Gesellschaft muss den
Individuen dieses Gebot bereitstellen: Die feiernde Gruppe verschafft
den Einzelnen dieses Gebot. Die Feiernden, die diesem Gebot folgen,
transformieren dadurch das zwiespältige Element in ein großartiges. Sie
feiern dann zugleich ihren Genuss wie auch ihre eigene transformierende
Kraft in Bezug auf dieses Element.
Nur in Gesellschaft, als öffentliche Figuren, als "public men" im Sinn
des Soziologen Richard Sennett, können wir darum das Leben als lohnend
empfinden; nicht aber auf uns allein gestellt, als "private persons" -
oder, wie die Antike es nannte, als bloß dem Privatleben verpflichtete
"Idioten".
Was die aktuelle Kultur kennzeichnet, ist, dass sie solche geselligen
Gebote immer weniger bereitstellen kann. Stattdessen tauchen ständig
neue, lebensvergessene Dringlichkeiten auf:
Wenn Prioritäten wie
Sicherheit, Gesundheit, Kosteneffizienz oder der sogenannte "europäische
Hochschulraum" in der Kultur der Gegenwart als vermeintlich höchste
Güter nach ganz oben drängen, dann werden Lebensqualitäten wie
Bürgerrechte, soziale Absicherung, Genuss, Würde, Eleganz und
Intellektualität meist ohne Zögern und ohne jede Diskussion geopfert.
Wie Verbrecher behandelt
Unbescholtene Menschen werden bei Sicherheitskontrollen wie Verbrecher
behandelt und bis auf die Socken durchsucht. Regierungen verbieten uns
das Rauchen, als ob wir Minderjährige wären. Sogar auf der Straße soll
es untersagt werden, und die Zigarettenpackungen sollen anstatt
liebevoller grafischer Gestaltung am besten nur noch Warnungen und
drastische Bilder von Lungenkrankheit zeigen.
Die Universitäten Europas verwandelt man in repressive
Obermittelschulen, die nur noch auf den Prinzipien des Zwangs und der
Kontrolle beruhen, wodurch die Ressourcen der freiwilligen Motivation
und des neugierigen Interesses verschleudert, und die Universitäten als
Orte der Forschung, des freien Gedankenaustauschs und der kritischen
Selbstreflexion der Gesellschaft ruiniert werden.
Ist es nicht erstaunlich, was wir uns gegenwärtig alles gefallen lassen?
Wir lassen uns wie Kinder behandeln - obwohl wir meistens sogar
energisch protestieren, wenn Kinder so autoritär behandelt werden.
Peinlicherweise sind wir nicht ganz unschuldig an diesen Entwicklungen.
Wir halten uns für Genussmenschen, rufen aber doch auffällig schnell
nach Verbot und Polizei, wenn irgendetwas gegen den Strich unseres
deutlich biederer werdenden Empfindens geht.
Unser politischer Verzicht auf das, was wir vom Leben haben können,
gründet sich also letztlich auf eine ästhetische Schwäche: die
Unfähigkeit, jene Bedingungen herzustellen und zu schätzen, unter denen
so anstößige Dinge wie Feiern, Tabak, Alkohol, Sex, schwarzer Humor,
müßiges Nachdenken etc. als lustvoll erlebt werden können.
Daran zeigt sich, dass die reichsten Bevölkerungen der Welt es verlernt
haben, sich die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohnt.
Das Unvermögen, diese Frage zu stellen, erscheint somit als die
charakteristische Schwäche unserer Epoche; als ihr typisches Symptom.
Nicht um die Antworten sind wir verlegen, sondern die resolute
Gewohnheit, die Frage zu stellen, ist uns abhanden gekommen. Und ohne
diese Frage erscheinen alle möglichen Antworten nur überflüssig,
belästigend und obszön.
Freilich bombardiert eine kommerzielle Kultur, die sich als hedonistisch
ausgibt, die Individuen permanent mit neuen Genussangeboten: exotischen
Urlaubsdestinationen, neuen Extremsportarten, uralten und aufwändigen
Wellnessprogrammen, bizarren Sextoys auch für unbizarre Ehepaare etc.
Aber bezeichnend ist, dass diese Genüsse eben entkoppelt von ihren
gesellschaftlichen Kontexten auftreten. Ja, die Individuen werden sogar
dazu angestachelt, sich keine solchen Kontexte vorgeben oder gefallen zu
lassen: "Be yourself!" lautet der postmoderne Hip-Hop-Refrain, der uns
suggeriert, wir sollten uns nur das nehmen, was uns ganz und immer
gefällt, aber nichts sonst - also nichts Zwiespältiges.
Alle bleiben damit, was den Genuss betrifft, ganz auf sich alleine
gestellt und können nicht auf die Transformationskraft kollektiver
Gebote zurückgreifen. So kommt es, dass große Bevölkerungsgruppen sich
ständig als "oversexed and underfucked" empfinden. Jene Genussgüter, die
wir als medial heftig auf uns eindringendes Angebot vor uns haben, sind,
wie Max Scheler treffend bemerkte, "sehr lustige Dinge, angeschaut von
sehr traurigen Menschen, die nichts mehr damit anzufangen wissen."
Schlagobers ohne Fett
Ohne die durch kulturelle Gebote vermittelte Verwandlungskraft in Bezug
auf das Zwiespältige können wir nur noch nach Dingen suchen, die
unzweideutig lustvoll sind. Darum boomen in der westlichen Kultur, wie
der Philosoph Slavoj Zizek früh erkannte, die Produkte des
sogenannten "Non-ism", denen jeweils das zwiespältige Element fehlt:
Schlagobers ohne Fett, Bier ohne Alkohol, Sex ohne Körperkontakt,
Sprechen ohne Kraftausdrücke, Kunst ohne Genie etc.
Überhaupt sind wir nicht mehr auf große Lust aus, sondern vor allem
nur noch darum bemüht, dass nichts stört. Weil wir unsere zwiespältigen
Eigenheiten nicht kunstvoll kultivieren können, versuchen wir sie zu
unterdrücken. (Der Jazzpianist Thelonius Monk dagegen hatte gesagt: "If
you ever play a false note, play it again, and play it loud!") So
setzen wir bei unserem Äußeren weniger auf produktive Verfahren wie
Kostümierung, Schminke, Frisur, und mehr auf die beseitigende
kosmetische Chirurgie. An die Stelle eines an die Öffentlichkeit
gerichteten Theaters der Schönheit ist die private, selten erfreuliche,
nackte Wahrheit des wirklichen Körpers getreten. Auch den öffentlichen
Raum säubern wir von allem, was irgendjemanden stören könnte (wie z. B.
Tabakkultur), anstatt die Funktion von Öffentlichkeit, wie noch in den
70er-Jahren, darin zu sehen, den Individuen positive Ressourcen zu
verschaffen, über die sie von sich aus nicht verfügen - wie zum Beispiel
Bildung, öffentliche Auseinandersetzung, Gelegenheiten zu Würde und
elegantem Auftreten etc.
Das, was wir gegenwärtig für unsere Vernunft halten, ist in Wahrheit
meist nur eine Agentin von Gesundheits-, Sicherheits- oder
Sparsamkeitsparanoia; die blinde Furcht vor allem Zwiespältigen,
die sich mit Argumenten bewaffnet. Vernunft hingegen, die ihren Namen
verdient, besteht eben nicht darin, sofort und ausschließlich dort
vernünftig zu sein, wohin die Furcht uns zuerst leitet.
Wirkliche Vernunft ist immer etwas Doppeltes: Sie besteht darin, auf
vernünftige Weise vernünftig zu sein. Unverdoppelte, einfache Vernunft
hingegen ist eigentlich gar keine. Einfach vernünftig zu sein, ohne
Fähigkeit zur Verdoppelung, ist vielmehr typisch für bestimmte Kinder.
Das sind jene altklugen, umweltbewussten Kinder, die zum Beispiel zu
ihren Eltern vorwurfsvoll sagen: "Man soll doch keine Plastikflaschen
kaufen." Das Bezeichnende an der kindlichen Vernunft altkluger Kinder
zeigt sich daran, dass sie immer ganz vernünftig sein wollen. Sie haben
überall kluge Regeln und Verbote parat und halten sich strikt daran, und
sie wundern sich, wenn sie bemerken müssen, dass die Erwachsenen, denen
sie so sehr nacheifern, ihrerseits doch auch ganz unvernünftige Dinge
tun, wie zum Beispiel charmant scherzen, sich verlieben oder sich
betrinken.
Wirklich vernünftig sein heißt also eben nicht ganz vernünftig sein zu
wollen, sondern sich ab und zu Momente kindlicher Unvernunft gönnen zu
können. Die Bedeutung dieser Verdoppelung hat der Philosoph Epikur
bemerkt. Er schreibt: "Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer
dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in
Maßlosigkeit verfällt." Die Mäßigung, die unser Leben reguliert, kann,
wenn sie nicht verdoppelt wird, selbst zur Maßlosigkeit werden. Genau
in dieser Situation leben wir gegenwärtig: Wir mäßigen uns maßlos. Aus
Furcht vor möglicher Beeinträchtigung des Lebens beeinträchtigen wir es
selbst vollständig.
Wir mäßigen uns maßlos
Der stoische Schriftsteller Juvenal schreibt: "Betrachte es als die
größte Schandtat, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham;
und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt,
zu verlieren."
Diese Frage - nach den Gründen, für die es sich zu leben lohnt -
bildet den Kern einer von der Antike überlieferten philosophischen
Tradition: des Materialismus. Das gute Leben ist das Ziel der
materialistischen Anstrengungen, und das schlechte "mehr zu fürchten als
den Tod" (Brecht) das Grundprinzip der entsprechenden politischen
Kampfbereitschaft.
Do-it-yourself-Verfahren
Der Materialismus hängt am Leben wie keine andere Philosophie, aber eben
nur am guten, und darum ist er auch, wie keine andere Haltung, imstande,
sich das schlechte Leben nicht gefallen zu lassen und es nötigenfalls zu
riskieren. Daran wird ersichtlich, inwiefern sich eine materialistische
Ethik von den derzeit boomenden Lebensratgeber-Philosophien
unterscheidet: Die vielen schlauen, kleinen aktuellen Ethiken raten, man
solle sich etwas gönnen, mehr "work-life balance" oder "quality time"
anstreben; oder aber sich, im Gegenteil, mehr mäßigen und gelegentlich
fasten und meditieren oder sich durch dauernden Verzicht auf fragwürdige
Genussmittel bessern.
Wie alle Ethiken fragen sie nach den Bedingungen glücklichen
individuellen Lebens, aber sie tun so, als ob sich dieses Leben auch
bloß mit individuellen Mitteln vollständig herstellen ließe. Eine
materialistische Ethik, die erkannt hat, dass das, wofür wir leben, von
zwiespältigen Genüssen abhängt, und dass diese Genüsse nur durch
gesellschaftliche Bedingungen als lustvoll erfahrbar werden, kann sich
nicht mit solchen Do-it-yourself-Verfahren zufrieden geben. Sie muss auf
die (Wieder-)Herstellung der entsprechenden gesellschaftlichen
Bedingungen drängen. Die Frage nach dem, wofür es sich zu leben
lohnt, ist darum ein Akt, der etwas Renitentes an sich hat: Diese
Frage ist eine Weigerung. Wer sie stellt, lässt sich nicht verrückt
machen von den ständigen Panikmachen, die unsere Gegenwartsideologie
prägen und unser politisches Leben lähmen.
Eine äußerst würdige Erbin des antiken Materialismus ist mir vor kurzem
auf der neuen CD
Mit links
des Trio Lepschi begegnet. In diesem philosophischen Meisterstück wird
auf der Frage nach dem guten Leben insistiert. So heißt es in dem Lied
Gschtuabm: "Sie haum uns des Lebm vaduabm, iangdwie sammar olle patea,/
wäu wea oiwäu und schtändig nua Fedan hod,/ dem woxn kaane Fliagl mea./
Sie haum uns des Schteabm vabotn,/ iagndwie haumar olle an Schiss,/
vegetian wia die lebendn Totn, / wäu z Dod gfiacht hoid aa gschtuabm
is."
(DER STANDARD, ALBUM, 29.1.2011)
Zur Person:
Robert Pfaller
ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in
Wien. Veröffentlichungen u. a.:" Das schmutzige Heilige und die reine
Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur" (2008). Das neue Buch "Wofür
es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie" erschien
im März 2011 (S. Fischer Verlag). |